Zwischen Schock und Aufbruchstimmung: Deutschland nach der Wahl

Starke Verluste bei Union und SPD. Die kleinen Parteien gewinnen. AfD auf Platz 3

Halten wir fest: Die Große Koalition in Deutschland wurde abgewählt. Ihre Protagonisten, die Union, d.h. die CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre bayerische Schwesterpartei CSU, und die Sozialdemokraten von Kanzlerkandidat Martin Schulz gehen mit historisch schlechten Ergebnissen aus den Bundestagswahlen hervor: Die Union kommt auf 32,9% und verliert 8,6% im Vergleich zu 2013, die SPD holt 20,5 % (-5,2). Die kleinen Parteien konnten hingegen punkten. Die liberale FDP zieht nach einer vierjährigen Pause mit einem starken Ergebnis von 10,7% wieder ins Parlament ein, und auch die Grünen (8,9 %) und die Linke (9,2%) konnten leichte Gewinne verzeichnen. Doch den größten Paukenschlag verursachte zweifellos die rechtspopulistische AfD, die mit 12,6 % drittstärkste politische Kraft in Deutschland wurde und mit 94 Sitzen im Bundestag vertreten sein wird. Die Wahlbeteiligung stieg auf 76,2 %.

Die Stunde der kleinen Parteien: Weg frei für „Jamaika“

Trotz der Verluste der Union und der damit verbundenen geschwächten Position der Kanzlerin liegt der Auftrag für eine Regierungsbildung erneut bei den Christdemokraten, und Angela Merkel wird aller Voraussicht nach ein viertes Mal zur Bundeskanzlerin gewählt werden. Auch wenn die Wählerschaft zwar für einen Politikwechsel gestimmt hat und politisch von einer linken Bundestagsmehrheit nach rechts gerückt ist, will eine Mehrheit der Deutschen trotz vereinzelter Rücktrittsforderungen Merkel weiterhin an der Spitze der Regierung. Das im Moment realistischste Koalitionsszenario ist daher eine Regierung aus Union, FDP und Grünen, ein politisches Experiment, das aufgrund der Farbkombination der Parteien „Jamaika-Koalition“ genannt wird und auch von einer Mehrheit der Deutschen favorisiert wird.

Die SPD hatte bereits am Wahlabend erklärt, in die Opposition gehen zu wollen und einer Neuauflage der Großen Koalition eine Absage erteilt. Zum einen will sie der AfD nicht die Rolle als Oppositionsführerin überlassen, zum anderen ergreift sie die Chance, als Stimme der Opposition inhaltlich und personell ihr Profil zu schärfen. Die Erneuerung in der Opposition wird der SPD gut tun und dürfte auch die Diskussionskultur in Deutschland wieder normalisieren: Die traditionellen politischen Konkurrenten Union und SPD stehen sich wieder in Regierung und Opposition gegenüber.

Der Aufstieg der AfD

Die AfD zieht als rechtspopulistische Kraft ins Parlament ein, gestärkt von fast zwei Millionen Wählern aus dem Regierungslager und zahlreichen Stimmen ehemaliger Nichtwähler. Der AfD ist es gelungen, vor allem Wähler aus der unteren Mittelschicht zu gewinnen, die sich besonders in den ostdeutschen Bundesländern vom Abstieg bedroht sieht. In diesem Zusammenhang spielt natürlich auch die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung eine Rolle, die im Wesentlich auch von den Oppositionsparteien getragen wurde: Die AfD hat diese Chance genutzt und sich als einzige politische Alternative zur Politik der etablierten Parteien inszenieren können. Auf diesen beiden Pfeilern hat die AfD das Ressentiment schüren können, die politische Elite nehme die Alltagssorgen der Menschen im Land nicht ernst und lasse eine Überfremdung der Gesellschaft zu.

Es wird sich zeigen, ob sich dieses Potenzial aus Existenzangst, Identitätskonflikt und Gefühl der Vernachlässigung dauerhaft als politische Kraft rechts der Union etabliert oder ob die AfD Protestpartei bleibt – und sich mit der Zeit marginalisiert. Die Union steht nun vor der Aufgabe, ihre internen Konflikte zu lösen und sich zu entscheiden, sich als staatstragende Partei der politischen Mitte zu definieren oder die von der AfD gefüllte Lücke rechts davon wieder zu besetzen.

Missglückte Themensetzung bei den großen Parteien

Die starken Verluste der Regierungsparteien lassen sich auch durch die Wahlkampagnen erklären. Die großen Parteien haben im Wahlkampf auf die falschen Themen gesetzt. Zum einen dürfte eindrucksvoll deutlich geworden sein, dass das Hauptwahlkampfthema der SPD – soziale Gerechtigkeit – angesichts der wirtschaftlich guten Gesamtlage Deutschlands den Wähler nicht überzeugt hat. Ferner konnte sich die SPD nach vier Jahren in der Regierung nicht von dem Vorwurf losmachen, die Chance zur Veränderung eigentlich bereits gehabt zu haben.

Die Union hingegen ist weder durch markante Inhalte noch durch selbstbewusstes Werben mit ihrem Spitzenpersonal aufgefallen. Darüber kämpften beide Spitzenkandidaten mit einem Glaubwürdigkeitsproblem: Merkels schrittweises Zurückrudern in der Flüchtlingspolitik schadete ihr ebenso wie die wenig überzeugenden Loyalitätsbekundungen von CSU-Chef Seehofer in den Wochen vor der Wahl.

Europa als Thema verkannt

Es ist auffällig, dass Europa im Wahlkampf eine so untergeordnete Rolle gespielt hat. Martin Schulz hätte als ehemaliger EU-Parlamentspräsident eine Vision von Europa entwickeln und dafür können. Und auch die Kanzlerin vermied einen überzeugten pro-europäischen Wahlkampf, obwohl sie in Deutschland vor allem hier für ihr diplomatisches Geschick geschätzt wird.

Dafür wird das Thema in den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen bedeutsam werden und für viel Reibung sorgen: Denn auch wenn alle Parteien eines möglichen Jamaika-Bündnisses pro-europäisch ausgerichtet sind, dürften es schwierig werden, im Detail Einigkeit herzustellen. Vor allem in der Europolitik stehen sich Grüne und Liberale gegenüber, und auch in der Migrationspolitik zeichnen sich Konflikte mit der CSU ab, die nach wie vor eine strikte Obergrenze für Flüchtlinge fordert.

Es könnte die Stunde für Frankreich und Italien sein, den europäischen Integrationsprozess in Bewegung zu setzen. Macron hat das erkannt und die Initiative ergriffen. Nun wird es an Deutschland sein, eine gemeinsame Position zu finden und darauf zu reagieren. Die Augen bleiben auf Berlin gerichtet.

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